Rezension auf thurgaukultur von Barbara Camenzind:
Tanz durch die Schubladen
Was ist jetzt echte Volksmusik? Was sind echte Volksmusikanten? Der staatliche Beromünster-Hudigägg, Herr Prof. A. Gabalier mit seinem Nahdeutscherlebnis «Hulapalu», die Appenzeller Space Schöttl oder ils Fränzlis da Tschlin? Bei Klangreich in der Alten Kirche Romanshorn wurde am vergangenen Sonntag endlich wieder einmal Heinz Holligers „Alb-Chehr“ aufgeführt. Und Volksmusik nach Ansage.
Bericht zum Konzert der Reihe «klangreich» am 10. Februar 2019
von Hagen Zimmermann
Geister-Musik fürs Volk
Wie kann Volksmusik salonfähig werden? Indem man sie spielt, lautet die einfache Antwort für alle, die das sonntägliche Konzert der Klangreich-Veranstaltungsreihe erlebt haben. Denn wer erwartungsvoll dem Lockruf des selten zu hörenden Melodrams «Alb Chehr», des zeitgenössischen Schweizer Komponisten Heinz Holliger in die Alte Kirche gefolgt war, sah sich zunächst mit frei angesagter musikalischer Hausmannskost eingestimmt. Das Ensemble «sCHpillit», bestehend aus je zwei Klarinetten, Hackbrettern, Akkordeons (später Schwyzerörgeli) sowie Geige, Bass und allerhand Schlagwerk, machte seinem Namen Ehre und brillierte mit musikantischem Esprit. Sprecher Dani Mangisch sekundierte den Reigen im Volkston mit poetischen Beigaben in Hochdeutsch und Walliser Mundart. Spätestens an diesem Punkt, gestärkt durch ein hohes Mass performativer Energie, hatte sich der musikalische Abend gänzlich vom Anfangsverdacht auf krachledernes Einerlei befreit und die Sinne für das bevorstehende Älpler-Drama aus dem Jahr 1991 geschärft.
Mit der als Togg(el mar)ata betitelten Introduktion, einem pochenden, klopfenden, rhythmisch verdichteten Geschiebe kleinschrittiger Motive, beginnt die schaurig-schöne Sage vom grimmigen Senn, der seine beiden Hirten nach entlaufenem Milchvieh schickt. Auf ihrer Suche durchstreifen diese raues Terrain aus flirrenden Klangflächen und Melodiefetzen, bis Sologeigerin Rahel Kunz souverän den «sehnsüchtigä Walzer», freitonal, aber rhythmisch-metrisch geerdet, anstimmt. Gütige Geister, die sich als sechsstimmiger Männerchor mit geballten wie präzis geformten Akkorden über das Ensemble erheben, beschenken die Hirten mit Klarinette und Hackbrett. Wie zum Dank für die Gabe lassen die sCHpillit den weitgehend naturbelassenen Ländler und pumpende Polka erklingen. Zwischen Tradition und Moderne schiebt sich vermittelnd der höfisch beschwingte Tanz (Forlane) im 6er Takt, in dem die Musiker gekonnt zirpende Hackbrettklänge und wellenartige Bläserrouladen zu melodisch geschärfter Lieblichkeit verschmelzen.
Im finalen komplex gefügten «Totutanz», dem Senn zugedacht, der vom sündigen Neid getrieben statt der begehrten Geige den Tod findet, bündelt das Ensemble seine spielerische Kraft mit gestalterischer Fantasie: Klappert hier lautmalerisch verblichenes Gebein, schallt dort ein ferner Gesang aus der Tiefe des Raums, geistert gar ein Ländler in fahlen Tönen hohlwangig durch die Szene und erstarren die Anwesenden im Schlussakkord vor blankem Entsetzen? Wohl wäre dieses Sinnenkino noch eine ganze Weile in den Hörern nachgeflimmert, hätte das Ensemble das sichtlich bewegte Volk ohne den nachgeschobenen Rausschmeisser in die noch junge Nacht entlassen.
Ausschreibungstext zur Veranstaltung:
Sonntag, 10. Februar 2019, 17 Uhr
Heinz Holligers Alb-Chehr & Schweizer Volksmusik
sCHpillit:
dani mangisch, Sprecher
rahel cunz, violine
käthy steuri, Kontrabass
matthias würsch, hackbrett
christoph pfändler, hackbrett
sabine gertschen, Klarinette
domenic janett, Klarinette
ernst rohrer, Akkordeon
hermann lehner, Akkordeon
geischterchor: peter siegwart, leitung
In dem legendären und für die Neue Musik wegweisenden halbstündigen Werk Alb-Chehr von Heinz Holliger erscheinen Sennen, Älpler, verschwundene Kühe, Tänze, Geister, Eifersucht und Tod. Das Geschehen schlägt zuweilen in Grauen um. Grundlage ist eine alte Sage aus dem Kanton Wallis. Mit „Alb-Chehr“ wurden volkstümliche Klänge „salonfähig“ und weckten das Interesse einer jungen Komponistengeneration. „Alb-Chehr“ war auch Wegbereiter einer „neuen urbanen Schweizer Volksmusik“, deren Popularität noch immer zunimmt.
Holligers Komposition von 1991 ist für ein Ensemble geschrieben, das tief in der volksmusikalischen Tradition des Wallis steht. Diese «Rück-Chehr» zu den «reinen Quellen der Volksmusik» kann nach Holligers Meinung nach nur gelingen, wenn die Tradition durch ein stetiges Weiterentwickeln am Leben gehalten wird.
Alb-Chehr
Heinz Holliger: «Geischter- und Älplermüsig fer d’Oberwalliser Spillit», nach einer Walliser-Sage, die Johannes Jegerlehner veröffentlicht und Franziskus Abgottspon in Walliser-Mundart übertragen hat.